Wie das Leben so klingt


Akustische und therapeutische Aspekte unserer Um- und Innenwelt.

Ein Vortrag
(für die SdH-Bibliothek leicht überarbeitet)

Symposium "Medizin zwischen Dogma und Erkenntnis"
28. - 29.11.1997 im Auditorium Maximum der Technischen Universität Darmstadt

Inhalt:
Welt als Komposition - Akustische Ökologie - Veränderungen unserer Lautsphäre - Akustikdesign zwischen Bewahren und Eingreifen - Hören als existentielle Erfahrung - Wege schöpferischen Handelns - Klang und Stille - "Ökologische Aspekte" der Musiktherapie - Der "Ton des Seins" 

(Welt als Komposition)


Es gibt einen sehr reizvollen anthropologischen Entwurf Murray Schafers, eines kanadischen Komponisten, unsere Welt, unser Leben insgesamt als Komposition zu betrachten. (Vgl. Schafer 1988, 249ff.) Die Welt als Komposition und wir darin gleichzeitig Spieler, Hörer und Komponisten.
Spieler: Ob wir nun reden oder schweigen, wir leisten unseren Beitrag, und "Pausen sind eben auch Musik" (wie ich gelernt habe).
Hörer: Eine in unserer Zeit besonders herausragende Rolle. Wir müssen viel anhören, ob wir wollen oder nicht. Und die Rolle des Komponisten, die uns als Gestaltende, Mitgestaltende, Mitverant-wortliche sieht.

Als Musiker habe ich Sympathie dafür, einem Konzept zu begegnen, das mit speziell musikalischen Begriffen arbeitet und gleichzeitig das Ganze meint. Das heißt: Musik ist nicht nur Teil der Welt, sondern die Welt selber, in dieser besonderen Sprache, in der Sprache der Musik. Das ist mein Credo.

Auch der Schriftsteller Klaus Wittig formulierte einmal in einem ZEIT-Artikel (vom 3.9.1993): "Das Leben klingt." Der Tänzer und Choreograph John Neumeier, gefragt, würde sicherlich sagen: "Das Leben tanzt." Und beide haben sie Recht. Nicht Teilaspekte kommen zum Ausdruck, das Ganze, das Leben selbst zeigt sich in jeder Sprache, zum Beispiel der Musik. So haben wir über die akustische Ebene Zugang zu individuellen Themen, zu globalen Problemen unserer Zeit, und wir können sie auf dieser Ebene auch angehen, das versuche ich hier deutlich zu machen. 

(Akustische Ökologie)


Nun möchte ich gerne einen Begriff einführen, den Begriff "akustische Ökologie". Ökologie, ein Ihnen vertrauter Begriff, meint "das Studium der Beziehung zwischen lebenden Organismen und ihrer Umwelt" (Schafer 1988, 249).
Akustische Ökologie richtet dabei das Augenmerk auf die Laute, studiert diese Laute "in ihrer Beziehung zum Leben und zur Gesellschaft (Schafer 1988, 249)."
Wenn wir nun den oben skizzierten Entwurf: "Welt als Komposition" bejahen, diesen Scheinwerfer einmal akzeptieren, dann sind wir natürlich mittendrin und das heißt auch in der Pflicht. Wir sind für ein Zuviel, ein Zuwenig , den quantitativen Aspekt genauso in der Verantwortung wie für den qualitativen, denken Sie z.B. an den Rückgang der Lautenvielfalt, die zunehmende Monotonisierung unserer Lautsphäre.

Bei der Beschäftigung mit den erhaltenswerten bzw. bedrohlichen Klängen dieser Welt begegnete Murray Schafer immer wieder der Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Zivilisation und Natur. Die Stadt ist nicht einfach nur laut, lauter, sie wirkt ganz anders, da der Grundpegel ihrer Geräusche die akustische Landschaft stark verdichtet. Einzelne Signale treten wenig klar aus dem akustischen Hintergrund des Verkehrs hervor. Auf dem Land dagegen, noch kennen wir das, kann ein einzelner Laut, ein Bachlauf, Hahnenschrei oder die Kirchenglocke ein Ereignis sein. Zumindest erheben sie sich klar und deutlich aus der Stille. So untersuchten Schafer und Mitarbeiter ländliche und städtische Lebensräume, sog. "Soundscapes"(von landscape ausgehend eine Wortschöpfung) und konnten zeigen, wie sehr menschliche Gemeinschaften eben akustische Gemeinschaften sind. Die These Schafers: Klänge verbinden die Menschen miteinander, Geräusche trennen sie. Wollen wir Geräusche einmal verstehen als "unerwünschte Laute", als "starke Laute", als "Störung" (Schafer 1988, 229). Klang würde ich demgegenüber mit Akzeptanz, Bewußtheit verbinden. Also nochmals: Klänge verbinden die Menschen, Geräusche trennen sie.

Unter den Geräuschglocken der Städte geht viel Gemeinschaft verloren. Lärm und die mediale Berieselung isolieren das Individuum akustisch von der Gemeinschaft. So macht die Forderung nach akustischer Gestaltung Sinn, eine Aufgabe für Architekten, Städteplaner, aber gerade auch, wie ich meine, für Musiker, Pädagogen, Therapeuten, Ärzte, um das Hören in einer intakten, klaren, möglichst stillen Lautsphäre wieder möglich zu machen und darüber gesünder an Leib und Seele, kontaktfähiger zu werden (vgl Leidecker 1997, 750). 

(Akustikdesign)


Und diese Aufgaben einer akustischen Ökologie, das ist vielleicht schon deutlich geworden, spielen sich ab, zwischen den Polen Bewahren und Eingreifen. Es ist immer eine Sache dazwischen.

Ein Arbeitsgebiet akustischer Ökologie im Sinne des Bewahrens ist die Dokumentation. Ein Beispiel: So wie es Menschen, Organisationen gibt, die Natur bewahren wollen, Waldgebiete retten, Autobahnen verhindern, gibt es glücklicherweise auch solche, die die Stimmen der Natur festhalten, bewahren, retten wollen. Meist geht es darum, Naturaufnahmen möglich zu machen, die keinen Lärm, z.B. keinen Flugzeuglärm mitliefern. Es ist fast unmöglich geworden. Denken Sie mal beim nächsten Waldspaziergang daran. Hören Sie hin und Sie werden anderes noch hören als den Wald.

Walter Tilgner ist der wohl bekannteste Forscher auf diesem Gebiet der Naturaufnahmen. Vielleicht kennen Sie sogar seine CDs " Die vier Jahreszeiten", "Vogelhochzeit" usf. . Seine Einzelaufnahmen sind sehr präzise etikettiert, z.B. "Buchenaltholz am Bodanrück" oder "Ufergebüsch am Reichenaudamm". Ich setze solche Aufnahmen auch gern im Unterricht ein, in verschiedenen Zusammenhängen, auch in der Entspannungsarbeit. Studierende empfinden seine Aufnahmen manchmal als unnatürlich, was bedeuten könnte, daß sie Störgeräusche als etwas Selbstverständliches mithören und daß ihnen etwas fehlt, wenn die üblichen Störgeräusche nicht da sind.

Walter Tilgner nennt sich Naturkomponist, eine sehr aufschlußreiche Bezeichnung. Als einer, der noch authentische Tonaufnahmen machen möchte, versucht er ja eher etwas wegzunehmen, wegzulassen, als zu komponieren, eben störende Flugzeuggeräusche weglassen, die nicht zum Wald gehören. Er versucht nicht etwas Neues zu machen, zu komponieren. Der Begriff "Komponist" hat hier eine völlig neue Bedeutung, und dies scheint mir charakteristisch für unsere Zeit zu sein, oder zu werden: Schöpferisch sein kann bedeuten, etwas wegzulassen, sich zu bescheiden, etwas weniger.

Die Klangebene zu bewahren, den Rückgang der Lautenvielfalt zu verhindern, eine Nivellierung unserer Lautsphäre nicht weiterzutreiben, das sind wichtige Ziele heute in der Sprache von Musik, von Klang. 

(Veränderungen unserer Lautsphäre)


Es ist aufschlußreich, die Veränderungen unserer Lautsphäre über Jahrzehnte und Jahrhunderte zu beobachten. Wir greifen ja ständig ein. Unsere Eingriffe, man könnte diese als Akustikdesign bezeichnen, also unser Akustikdesign in einem großen Bogen ergibt z.B. die folgenden Stationen:

die frühländliche Lautsphäre tönt von Bachlauf, Hahnenschrei, Kirchenglocken, Schmiedehämmern, Peitschenknall, Rädern auf Kopfsteinpflaster. Das sind Klänge mit Charakter.

ab dem industriellen Zeitalter finden wir den Pulsschlag von Maschinen als Dauerüberflutung. Die Klänge sind nicht nur laut, lauter, das Neue ist ihre Monotonie, ihre Redundanz.

die elektromechanische Zeit bringt Telefon, Fax, Radio, Fernsehen, Computer. Das Neue dabei ist, daß Töne vom Ort ihrer Entstehung getrennt werden können. Durch die Übertragung gewinnen Töne eine beliebige Reichweite. Und was noch revolutionärer ist: Unsere Klangkomposition erfährt eine unglaubliche Verdichtung, weil z. B. eine einzige Fernsehsendung sich in jedes Wohnzimmer multiplizieren läßt. (Vgl. Jaeggi 1989, 64)

Diese (skizzierte) Entwicklung kann man natürlich beklagen. Das Individuelle, das Charakteristische wird nivelliert im Symbol der Maschine und verliert schließlich seine Wurzeln, seine angestammte Umgebung. 

(Akustikdesign zwischen Bewahren und Eingreifen )


Wo ist nun das Eingreifen nötig und wo findet es vielleicht schon statt? Nun am häufigsten ist das Eingreifen, das Akustikdesign im Zusammenhang mit Konsum anzutreffen, also da, wo verdient werden kann. Das Akustikdesign von Autos steht an erster Stelle, das wird Sie nicht überraschen. Geräusche werden danach gestaltet, daß sie attraktiv, aufregend, auffallend sind - eben Markenzeichen für das jeweilige Produkt, und nicht etwa leise. Dieser Eingriff nutzt uns im angesprochenen Zusammenhang nicht, notwendiger wäre es und einfach eine ganz andere Richtung der Aufmerksamkeit, Lärm im Alltag ernstzunehmen und zu reduzieren, Qualitäten zurückzugewinnen im Dienste von Mensch, Tier, Natur. Zu konstatieren ist aber eher das Gegenteil. Die Schwerhörigkeit steht bei den Berufskrankheiten ganz weit vorne, das Hörverhalten insbesondere von Jugendlichen ist so , daß sie ihre Musik viel zu laut hören. Aber die Schädigung von Hörzellen, das Zerbrechen der Härchen im Innenohr geschieht auch, wenn die Musik Spaß macht. Das ist das Schwierige daran, und so haben wir Millionen Hörgeschädigte in der Bundesrepublik und Tinitus (Ohrgeräusche also) als Volkskrankheit.

Nach Untersuchungen der Arbeitsgruppe Hörforschung der Universität Gießen, das ist Professor Fleischer mit seiner Gruppe, die seit 1993 rund 2500 Hörtests bei verschiedenen Alters- und Berufsgruppen durchgeführt haben (vgl. Fleischer 1990), hat jeder sechste Berufsanfänger sein Hörvermögen bereits soweit eingebüßt wie ein Arbeiter, der seine Tätigkeit unter starkem Lärmeinfluß ausführt, nach zehnjähriger Berufstätigkeit.

Wie können wir solche Entwicklungen korrigieren? Meine Antwort darauf heißt: Hören muß als existentielle Erfahrung wieder neu und anders erschlossen werden. Dieses Nebenbeihören und so ganz nebenbei auch sein Gehör verlieren, das darf nicht weitergehen. 

(Hören als existentielle Erfahrung)


Hören als existentielle Erfahrung - wie könnte das gehen?

Ein wichtiger Aspekt ist natürlich die Aufklärungsarbeit. Hier gibt es seit einem Jahr den Projektkreis "Schule des Hörens", dem ich angehöre. Gegründet wurde er von dem Rundfunkmann Karl Karst. Diesem Kreis gehören Klangdesigner, Musiker, Therapeuten, Rundfunkleute usf. an. Uns geht es darum, bewußt zu machen, wie bedeutsam das Ohr ist und wie wir es schädigen durch unseren täglichen Umgang mit Lärm, z.B. viel zu hohen Dosen in Diskotheken und durch Walkman-Gebrauch (vgl. Hamburger Abendblatt vom 7.10.97 S.8). Noch am Anfang steht das Nachdenken über didaktische Konzepte zum Thema Hören in der Ausbildung. Es ist mir ein großes Anliegen, dies in meiner Hochschularbeit zu berücksichtigen und Seminare zu halten, die diese existentielle Erfahrung "Hören" anregen und von der alltäglichen Klangflut zur Stille und weiter zur Welterfahrung als Sinneserfahrung zu führen (vgl. Leidecker 1997, 751).

Einige Ansätze meiner Arbeit dazu im folgenden. 

1. Die Idee der Lautbiographie.

Was meint Lautbiographie? Ich meine damit, daß mein Lebensweg auch ein Hörweg ist, ein Weg des Hörens. Ich meine, daß besondere oder erst recht existentielle Erfahrungen in der Regel mit Hörerfahrungen verbunden sind.

Der Anfang meiner Arbeit mit Lautbiographien in Seminaren war der Bericht eines Studenten, der das Nachhausekommen seines Vaters in seiner Schilderung aus der Kindheit verband mit einer ganz bestimmten Art in der die Gartentür ins Schloß fiel und der Vater kam. Dies verband sich in ihm mit ganz unterschiedlichen Gefühlen, je nachdem, ob er etwas ausgefressen oder Geburtstag hatte und sich auf Geschenke freute.

Denken sie doch mal in Ihr Leben hinein, vielleicht erinnern Sie auch Laute, mit denen Sie ganz bestimmte Erfahrungen verbinden. Ich sage es noch einmal, es geht hier nicht um die Laute an sich, sondern um das, was sich über diese Laute im Seelischen rührt. Manches überschreitet die Möglichkeiten eines Seminars und ist Material für die therapeutische Arbeit. 

2. Der (schöpferische) Hörspaziergang

Ein weiterer Weg existentieller Hörerfahrung ist der Hörspaziergang - ein ritualisiertes Gehen, ein Spazierengehen mit geschlossenen Augen, Gehen in der völligen Aufmerksamkeit für die "reale, augenblickliche Klangumwelt" (Winkler 1997, 6). z.B. durch Wiese oder Wald, am Rande eines Stadtviertels oder wo auch immer.

Etwas herzugeben (die Augen zu schließen) führt meist zu einer vertieften Wahrnehmung für das andere (gerade das Hören). Die Straße unter mir wird zum Film, ich gehe, werde von einem Partner geführt und erlebe, wie sich Licht, Wärme, Klangverhältnisse im Gehen wandeln. Unser übliches Nebenbeihören gilt hier nicht. Dies alles können ganz intensive Erlebnisse sein, um den Sinn der Sinne wieder zu entdecken: Tiefes, ganzheitliches Erleben zu haben, auch die Sinne als Türen zur selben Sache.

Im Anschluß an Hörspaziergänge mache ich der Gruppe meist das Angebot, einen Text, ein Gedicht zu schreiben, um dadurch eine weitere Möglichkeit der Verarbeitung zu haben, Erleben zu vertiefen und zu verankern, z.B. in einer bewußt strengen und knappen, ich sage ökologischen Form des japanischen Haiku, das ist eine Strophe mit drei Versen in 17 Silben (5-7-5), aber nur ein Gedanke).

Beispiel eines Haiku:

"Wiese, Wald und Bach
verfließen in meinem Ohr
ohne sich zu sehn." 

(Wege Schöpferischen Handelns - Klang und Stille)


Nun, Lautbiografie und Hörspaziergang haben vielleicht deutlich machen können, daß Hören und schöpferisches Handeln nah beieinander liegen.

In Musikpädagogik und Musiktherapie regen wir ja schöpferisches Handeln an, ein Handeln, das sich unter der Autorität des immer weit geöffneten Hörsinns vollzieht.

Und meine These an dieser Stelle lautet: Wenn wir unsere Hörwahrnehmung nicht in ihrer Tiefe nutzen lernen, stimmt auch unser Handeln nicht.

Ein Nebenbeihören führt zu einem Nebenbeireden, Nebenbeifühlen.

In der musikpädagogischen und der musiktherapeutischen Arbeit gibt es ein- sagen wir- Übungs- oder Entwicklungsfeld: Die Gruppenimprovisation, die zwischen Klang und Stille angesiedelt ist.

Die Gruppenimprovisation am Beispiel Musik beinhaltet kurz gesagt jenes dynamische Geschehen, das die Formen menschlicher Kommunikation in der Sprache der Musik aufgreifen kann. Mit- und Gegeneinander, Konflikt und Lösung, Imitation oder ureigene Gestalt. Worauf kommt es dabei an und was hat dies mit dem Thema "Ökologie" zu tun? Es kommt bei der Gruppenimprovisation hörend darauf an, den Klängen Gewicht oder besser Tiefe zu geben, zu lassen. Wo kommt die Tiefe her? Aus der Person selber (personare hindurchtönen). Lernen, sich im Klang auszudrücken, auch die Suche dem Klang anzuvertrauen, wahr zu werden im Selbstausdruck, eben authentisch. Man kann dasselbe auch sagen, vielleicht, man kann es tanzen, malen, einem Material anvertrauen. Mein Beruf ist es, insbesondere, Zugänge über den Klang zu ermöglichen.

In der Ausbildung von Sozialpädagogen geht es mir darum, das eigene schöpferische Potential entdecken, entwickeln zu helfen, damit dann ein Faden geknüpft werden kann zum schöpferischen Potential des anderen, des Gegenüber. Wer es auch sei, ein Behinderter, ein Kind, ein alter Mensch (vgl. Leidecker 1996, 407).

Im "klangökologischen Sinne" werden bei der Gruppenimprovisation viele Qualitäten angeregt: Das Zuhören, Bewußtheit, das Jetzt im Klang, Tiefe und (personale) Transparenz von Klängen, Authentizität des Ausdrucks. Das sind zweifellos ökologische Klangqualitäten.

Ein weiterer dazu komplemtärer Themenbereich ist mit "Stillearbeit" zu umreißen (z.B. stilles Sitzen, autogenes Training (mit Musik), Entspannungsgeschichten (gerade für Kinder), meditative Tänze, Klangmeditationen usf. Kreative Entspannungsarbeit nenne ich diese Ansätze in meiner Seminararbeit, die, und das ist eben das Wichtige, zum gleichen Ziel führen: Gleichgewicht von Ruhe und Aktion, Gleichgewicht von Spannung und Entspannung, Wachheit der Sinne, Sensibilität von Leib und Seele. In solchen Qualitäten, nicht zuletzt im Gleichgewicht, treffen wir zentrale "Gebote" einer akustischen Ökologie. Denn Ent- Spannung kann ja nicht das Ziel der Arbeit sein, nur das Gegengewicht zu unserer üblichen Ver-Spannung. Stilleerfahrung oder Stilleübung (wie sie sich auch immer im Äußeren gebärden mag) ist nicht reserviert für das "dritte Ohr", sondern Stille ist wie Peter Becker es formulierte (in: Musik und Bildung 5/91, 5f) einfach "die Atmosphäre, in der sich unsere ganz schlichten zwei Ohren öffnen und zwar nach innen und außen, und Stille ist auch das Klima, in dem es gelingt, Zugänge zur Kunst zu finden und im Umgang mit ihr immer auch etwas über uns selbst zu erfahren." (Becker 1991, 6). 

(Ökologische Aspekte der Musiktherapie)


Ich habe bisher die Idee einer akustischen Ökologie als Wegweiser benutzt, Qualitäten beschrieben und auch kreative Handlungsformen, die nutzbar werden können, unser Leben hörend zu begreifen und zu gestalten. Und ich habe einen Zusammenhang hergestellt zwischen der Tiefe unserer Hörwahrnehmung und der Qualität unserer Beziehungen (Nebenbeihören = Nebenbeifühlen), wenn Sie mir dieses Schlagwort gestatten. Und nun versuche ich, ökologische Aspekte auch in der musiktherapeutischen Arbeit anzusprechen.

Zunächst einmal klingt in der Musiktherapie das Leben ja sowieso, das gehört zum Geschäft. Im Kern der Arbeit steht ein nonverbaler, ein musikalischer Interaktionsprozeß, in dem "Klangräume als Lebensräume" erfahrbar werden können. Lassen Sie mich als Praxisbeispiel Musiktherapie in der Altenarbeit thematisieren, was mich gerade sehr beschäftigt.

Es geht um sozialpädagogische Musiktherapie mit verwirrten Frauen im Altenheim. Im Mittelpunkt der musiktherapeutischen Arbeit stehen Handlungsformen wie die Arbeit mit Liedern, instrumentales Improvisieren, das Musikhören als Anregung von Lebenserzählungen.

Meist wählen wir als Ausgangspunkt einer Stunde ein bestimmtes Thema aus dem Erleben der vergangenen Stunde heraus und bereiten uns darauf vor mit entsprechenden Liedern, Texten, Gebärdentänzen. Aber wir lassen uns dann natürlich verwickeln wie der Augenblick es verlangt. Unsere Themen können spielerisch beim Wort genommen werden oder als Tor für seelische Bedürfnisse in die Tiefe führen. Hören Sie mal in Themen hinein: Herbst, Familie, Miteinander, Lebensfreude, Kontakte, Jugendzeit.

Wenn Sie nach Zielen dieser Arbeit fragen, sage ich: Mit dazu beizutragen, unerledigte Geschäfte zu erledigen (wie Elisabeth Kübler-Ross es gerne formulierte).

Nicht offensiv, aufdeckend, das ist auch gar nicht nötig. In einen echten Kontakt zu gehen, dieses "Du bist gemeint!" zu signalisieren in Verbindung mit den oben angesprochenen Wegen. Das bringt innere Arbeit in Gang.

Lassen Sie mich einige Qualitäten der Arbeit, Stille Qualitäten nennen.

Dieses Miteinander Dasein (abholen von der Station, im Aufzug, im Gruppenraum, beim Zurückbringen)

Sich Wahrnehmen, zuwenden (auch der Frauen untereinander)

In Kontakt kommen (mit sich und anderen zusammen singen, klingen, reden)

Sich ein wenig rühren, bewegen, bewegt sein (etwa beim Gebärdentanz) 

Einfach zusammen sitzen, ein- und ausatmen und schweigen, im Grunde ganz ursprüngliche, alltägliche Haltungen. Und für den Begleiter gilt: Raum zu lassen, zuzuhören; nichts wollen, aber ganz dasein.


Sie merken sicher, worauf ich hinaus will.

Erstens sind es eben diese Stille-Qualitäten, die so wichtig sind und die therapeutisches als professionelles Handeln begleiten müssen. Zweitens gilt es, an alte, vertraute Klänge aus dem Leben wieder anzuknüpfen. Über die Lieder selbst oder besonders das, was der Nachklang von Liedern hinterläßt, anrührt im Seelischen (da heißt es geduldig sein).

Also eben nicht Lied auf Lied schmettern. In unserem Zusammenhang ist das Lied als Ereignis gemeint, "mein Lied", das einen Prozeß in Gang setzt und die dahinter liegende Geschichte als einen Schatz heben läßt, eine wichtige Lebenserinnerung ein "unerledigtes Geschäft".

Schließlich noch eine Szene aus der Arbeit mit Instrumenten:

Wir sitzen um einen Tisch. Der Tisch ist aber eine Trommel, eine Tischtrommel. Unsere Hände sind darauf abgelegt. Die Bewegungen, auch das Zittern der Hände werden hörbar. Lieder werden spontan begleitet, Themen, wie gerade Herbst, werden mit einem klingenden Blätterwirbel auf dem Trommeltisch akustisch intensiviert, erlebt.

Unsere Erfahrungen insgesamt: Die Frauen werden lebendiger, der Wortschatz erweitert sich wieder, eine Tochter ruft an und staunt: "Unsere Mutter spricht ja wieder ganze Sätze!"

Schöne und wichtige Erfahrungen für uns alle. 

(Schluß)


Ich komme zum Schluß.

Nehmen Sie noch einmal die Themen dieses Vortrags auf, wie

- Komposition Welt
- Akustische Ökologie / Akustikdesign
- Das Hören als existentielle Erfahrung und
- schöpferische Handlungsformen in Pädagogik und Therapie

Es macht Sinn, die Welt als Klang-Komposition zu betrachten, es ermöglicht uns einen Zugriff auf Lebens-Themen, Lebens-Räume.

"Das Leben klingt", und so können wir hörend handeln. Wir haben es in der Hand - im Ohr - unsere Welt über die akustische Ebene zu begreifen, zu bewahren und einzugreifen, zu gestalten, auch mit schöpferischen Handlungsformen.

Und wenn wir uns darauf einlassen, dann gibt es eine Chance, noch über das bisher Thematisierte hinaus.

Der Philosoph und Psychologe Karlfried Dürckheim hat es einmal so formuliert:
"Der Ton des Seins erklingt ohne Unterlaß. Die Frage ist, ob wir als Instrument so gestimmt sind, daß er in uns widertönt und wir ihn hören." (Dürckheim 1986, 41)

Wie das geht?

Da sage ich lieber - mit Michael Ende: "Das soll ein andermal erzählt werden."

(...)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 

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