Hör doch mal zu ...


Das Hörspiel galt lange als die "Krönung des Funks". Heute, 75Jahre nach den Beginn des Hörfunks in Deutschland, setzt man auf Geschichten, Akustik, Hörer, kurz: aufs Erzählen.
Als Alfred Bronnen 1926 mal wieder ein Auto ausleihen wollte, wurde er von seinem Mechaniker überrascht und in eine kunsttheoretische Debatte verwickelt. Was war geschehen? Der unbekannt gebliebene Mann hatte die erste Aufführung eines literarischen Hörspiels im Radio gehört - und das Gespräch mit den Autor gesucht. "Es war das erste Mal", so notierte Bronnen später, "daß ich mit Arbeitern über Kunst sprach". Und es blieb nicht bei dem einen Gespräch. Der frühe Rundfunk traf vielfältig auf "Bildungs-Hunger, Aufnahme-Fähigkeit, echte Gläubigkeit. Dort war Kontakt mit dem Volk".
Solche Berichte über überraschende Wirkungen und begeisterte Hörer sind in den letzten Jahren rar geworden - und dies dürfte nicht nur mit der neuen Medienvielfalt zu tun haben. Die Orientierung am Publikum ist bei den meisten Hörspielautoren, Theoretikern, Redakteuren oder Kritikern außer Mode gekommen; das Erzählen für die Vielen ein ungeliebtes Kind geworden. "Das erzählende hörspiel", so schrieb etwa der Hörspielautor Hartmut Geerken 1992, "ist nicht mehr angesagt. Das erzählende hörspiel, auch nur in ansätzen, ist längst zu ende erzählt & der viel beschworene große spannungsbogen der literatur ist schnee von gestern".
Das erzählende Hörspiel freilich hat es nie gegeben, und seit ihren Anfängen 1924 hat die Radiokunst aus den verschiedensten Quellen geschöpft. Als die ersten Theaterstücke mit verteilten Rollen zunächst gelesen und in späteren Jahren nachgespielt wurden; als sich Schauspieler zur Ursendung in Kostüm und Maske, in Wehr und Waffen trafen, um die Klassiker besser zu den Hörern zu bringen, da existierte das Hörspiel weder als Wunsch noch als Gattung. Im Gegenteil. Die "arteigene" Kunstform des Radios mußte erst gefunden werden - und so wurde die Epik ebenso befragt wie Dramatik, Lyrik oder Akustik. Doch die Anfänge waren schwer. Noch 1928 schrieb Hans Flesch: "Ich habe noch kein sogenanntes Hörspiel gefunden, daß sich nicht als ein verkapptes Schauspiel entpuppt hätte".
Die Schriftsteller jedenfalls hielten den Hörfunk lange für etwas Vulgäres, für Unterhaltung und Belehrung plumper Art und blieben ihm fern. Die Technik ermöglichte nur Live-Sendungen, die Hörspiele konnten also nur einmal ausgestrahlt werden, und die Dramaturgie mußte der Mittelwelle entsprechen,. Die Bezahlung der Autoren war mäßig, das Renommee gering und eigenständige Hörspielabteilungen gab es noch nicht. So waren es in den ersten Hörspieljahren vor allem Radioangestellte, die sich ums Hörspiel kümmerten und das jeweilige Hörspielprofil literatur- und hörernah bestimmten: Alfred Braun, seit 1924 der erste Berliner und deutsche Hörspielleiter, Ernst Hardt, Julius Witte, Hans Bodenstedt, Friedrich Bischoff..
1929 begann dann mit einem Schlag die Zeit des literarisch relevanten Hörspiels in Deutschland. Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Fred von Hoerschelmann, Hermann Kasack oder Friedrich Wolf wandten sich der Radiokunst zu und gaben ihr neue Impulse. Doch der Hörfunk animierte die Autoren nicht zu einer neuen, rundfunkgemäßen und volkstümlichen Literatur. Döblins Hoffnung, das "akustische Medium" könne "der eigentliche Mutterboden jeder Literatur" werden; blieb unerfüllt; Und auch Walter Vollmers Forderung so zu erzählen, "wie es die Ahne am Ofen tat, wenn sie am Spinnrocken saß", scheiterte. Mehr als Rezitationen oder (Autoren) Lesungen gelang dem frühen Hörfunk nicht, und "Stegreiferzählungen" blieben nur kurze Versuche im stetig ausgeweiteten Programm. Das (mündliche) Erzählen konnte das Weimarer Hörspiel nicht prägen, das Vorbildstück wurde Eduard Reinachers lyrisch-symbolisches, innerliches und doch aufregendes Hörspiel ÒDer Narr mit der Hacke" (1930).
Auch nach dem Krieg hielt die literarische Orientierung an. Es waren die Jahre des literarischen Erzählens - und alles, was in der deutschen Literatur Rang und Namen hatte, schrieb auch solche Hörspiele: Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Günter Eich, Max Frisch, Siegfried Lenz, Wolfdietrich Schnurre, Martin Walser. Das Hörspiel der fünfziger Jahre spielte auf der "inneren Bühne" der Hörer. Es war in Mono, erzählte mögliche und rätselhafte Geschichten und erhielt seine ästhetische Faszination durch die Blende; die Sprecher Ida Ehre, Inge Meysel oder Gert Westphal waren populär und neuere Medien noch keine Konkurrenz. Der Hörfunk hatte eine Monopolstellung, riesige Hörerzahlen und wurde viel beachtet. Und das Hörspiel war nicht avantgardistisch, sondern populär. Nicht nur die Filmautorin Helma Sanders war damals davon überzeugt, daß "Hörspiele das Schönste sind, was man zu Hause haben kann. Die Geschichten von den Termiten, von den Biedermännern und den Brandstiftern, vom Tiger Jussuf, von der Brandung von Serúbal, das ist die Wahrheit, so ist die Welt. Wenn ich im Bett liege, spreche ich die Texte, soweit ich sie behalten habe, und ahne die Stimmen der Schauspieler nach. Sie sind so schön, diese Stimmen, und die Menschen, die dazugehören und die man im Radio nicht sehen kann ...". Doch für die Weiterentwicklung der Form spielte das Erzählen auch in diesen Jahren keine große Rolle. Heinz Schwitzke, der Hörspielpapst der Nachkriegsjahre, notierte jedenfalls 1963, daß das Radio dem Erzählen keine "neuen Impulse" geben konnte. Es blieb "nur Vermittler, Übertrager, Sprachrohr, kein Former".
Erst viel später hat sich Eich, der wohl populärste und bedeutendste Hörspielautor, ausdrücklich einen "Erzähler auf dem Markt" genannt; einen Erzähler "der vor einem Publikum sitzt, und es unterhalten will; der eine Geschichte erzählt". Ich bin", sagte er 1971, "ein Geschichtenerzähler, zumindest in meinen Hörspielen, also fast immer" - und in der Tat sind "Die Andere und Ich" (1951), "Der Tiger Jussuf" (1952) oder "Sabath" (1951) leicht als Fabeln verständlich. Einfach, rätselhaft, präzise, anspruchsvoll - und doch populär. Auch wenn Eich die akustische Realisation nicht immer gefiel. Vor allem an der Musik hatte er viel auszusetzen. "Ich dachte, es müßte auch ohne gehen".
Doch als sich Eich so eindeutig als Erzähler outete, waren die Bedingungen fürs Geschichtenerzählen noch schlechter als in den Weimarer Jahren. Schon 1961 hatte der Berliner Medientheoretiker Friedrich Knilli notiert, daß "das literarische Hörspiel heute als Modell eindeutig erschöpft ist". Doch nicht nur dies. Die Stereophonie schuf neue Standards und machte die "Innere Bühne" unmöglich, die Dritten Radioprogramm setzten neue Anforderungen, eine neue Hörspieler-Generation machte sich bemerkbar - und so kam es ab 1967 zur theoretischen und dann auch zur praktischen Ablösung des alten Hörspiels. Es gab zwar weiterhin erzählende Hörspiele, eine große Rolle aber spielten sie in den Hörspieldebatten nicht. Sie waren halt im Programm und wurden dort zunehmend schwerer erkennbar, unauffällig.
Nirgendwo zeigte sich der Zwiespalt, in den die Radiokunst Ende der 60er Jahre gerutscht war, so deutlich, wie an den Auszeichnungen für den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Hin und her gerissen zwischen Altem und Neuem, Populärem und Elitärem, Erzählung und Akustik, Hörer und Macher pries man mal diese Richtung, mal jene. 1968 prämierte man "Fünf Mann Menschen" von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker - und das in Stereo produzierte, schnell geschnittene und ironische Radiostück wurde rasch zu dem (und noch immer spannenden) Neuen Hörspiel. Doch schon Mitte der siebziger Jahre gab man erzählenden Hörspielen wieder eine Chance. Dem von Christoph Buggert etwa, der sich 1978 vehement gegen das Nur-Kriterium literarischer Fortschritt aussprach und für eine Berücksichtigung von Aspekten wie "Programmauftrag" und "Rezeptionsverhalten des Publikums" plädierte. Statt schwer verständlicher Radiostücke wollte der heutige HR-Hörspielchef Radiospiele, die zum "Mitfühlen-Miterleben-Mitdenken-Mitphantasieren" einladen. Denn die Hörer waren dem Hörspiel davongelaufen; durch neue, erzählbare Geschichten sollten sie wieder zurückgeholt werden.
Den Bedeutungsverlust des Hörspiels freilich konnte auch die vorsichtige und noch sehr vereinzelte Neuorientierung nicht aufhalten. Die als edel empfundene selbstgewählte ´splendid isolation´ vieler Hörspielmacher verhinderte vielerorts eine Öffnung, und so ist die Frage, wie die Radiokunst ihre Hörer zurückbekommen kann, immer noch unbeantwortet. Soll sie sich vom Radio verabschieden und eine "neue ´Bühne´" außerhalb des Radios suchen, wie es die ehemalige NDR-Hörspielchefin Monika Klostermeyer fordert. Soll sie auf den Kassetten- oder CDverkauf setzen? Oder soll sie das durch Fernsehserien, Filme, privaten Rundfunk, Spartenradio und Zapping veränderte Medienverhalten ernst nehmen und die potentiellen Hörer in ihrem Hier und Jetzt neu abholen? "Muß", wie Herbert Kapfer, der Chef der Abteilung Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk, Anfang der 90er Jahre auf dem Hörspielforum Nordrhein-Westfalen fragte, "wieder erzählt, muß wieder einmal anders oder mehr erzählt werden"?
Da freilich war eine Neuorientierung, Neupositionierung längst eingeleitet. Bereits Mitte der achtziger Jahre hatte man tatsächlich begonnen, sich wieder dem Erzählen zuzuwenden - und war mit seinen populären Ambitionen auf viel Widerstand in der Szene und auf viel Freude bei den Hörern gestoßen. Der Bayerische Rundfunk etwa, richtete bereits 1986 Umberto Ecos populären Roman "Der Name der Rose" (BR, SWF, NDR) als Hörspiel ein und schuf einen wahren Radioklassiker, der noch immer wiederholt wird. Andere Hörspielabteilungen folgten mit J.R.R. Tolkiens "Der Herr der Ringe" (SWF, WDR 1991/ 92) oder Jostein Gaarders "Sofies Welt" (SWF, MDR 1994/ 95). In der Regel werden diese Sendungen als Serie ausgestrahlt, "Sofies Welt" wurde 1995 auch im Stück in einer Radionacht wiederholt.
Inzwischen ist eine Fülle langer und populärer Romane auch als Radiowerk präsent - und es sind in der Regel ältere oder ausländische Vorlagen, die mit Sprache, Geräusch, Musik und einer gestraften Handlung neu eingerichtet werden. Große Aufmerksamkeit erreichte der Hessische Rundfunk 1996 mit einer monumentalen Lesung der "Odyssee". Der klassische Homertext war durch Christoph Martin ins Neudeutsche übertragen worden und vereinte nun Soap-Opera und (durch den Sprecher Klaus Mann) klassische Erzählhaltung. Passend zu dem 16stündigen "Radioabenteuer" (in 21 Teilen) erschien die "Odyssee des Homer" (HR, BR, Eichborn) auch als CD und als Buch. All diese Sendungen machten das Hörspiel neu erkennbar, wurden zu einem großen Publikumsmagnet.
Auch beim Bayerischen Rundfunk versuchte man um 1994 verstärkt, vergessene Erzählungen durch moderne Regisseure und moderne Sprecher neu umzusetzen. Hier beschränkte man sich eher auf prononcierte, aber unbekanntere Autoren - und versuchte, ihnen einen neuen und durchaus auch spannenden Ton zu geben. Da wurden dann Texte von Carl Einstein, Ernst Kreuder oder Richard Huelsenbeck (Verwandlungen) neu realisiert. Die Orientierung am künstlerischen Erzählen entfiel, und probierte neue, entdramatisierte Sprechstile.
Aufsehenerregend waren zwei große Produktionen des Hessischen Rundfunks. Bereits 1994 sendete man die zehnstündige Montage "Frankfurt, eine Stadt erinnert sich (HR, Archiv erzählter Geschichte) - und beschränkte sich ausschließlich auf Oral-History und mündlich-erzählte O-Töne; ein Jahr später folgte der Radiotag "der Krieg geht zu ende" (HR, SWF, NDR 1995). 14 Stunden am Stück waren Texte aus Walter Kempowskis Projekt "Echolot" im Programm. 200 Sprecher hatten aus Tagebüchern und Briefen gelesen; die beteiligten Sender strahlten das Hörspiel zeitgleich aus. Das in der Geschichte des Radios einzigartige Projekt bekam nicht nur viel Lob und heftige Publikumsreaktionen, sondern wurde auch als CD angeboten - und ist so noch immer präsent. Diese Produktionen sind mit verantwortlich, wenn neuerdings wieder von einer "neuen Aufbruchstimmung" im Hörspiel gesprochen wird.
Auch "Mein wunderbarer Schattenmann" (WDR 1995) von Peter Steinbach und Christoph Busch ist der Kunst des Erzählens verbunden. Sechsstunden dauert das sechsteilige Kino-Hörspiel, daß nicht von Profis, sondern von Laien gesprochen wurde. Der Erzähler ist (ganz in der Tradition von Reitz/ Steinbachs TV-Epos "Heimat") auch ein Mithandelnder - und die akustischen Hintergründe sind dank digitaler Technik ausgesprochen opulent. Auf Opulenz, Spannung und Regionales setze auch Radio Bremen mit dem 13teiligen "Hörspiel-Abenteuer" "Singapore Sling" (1996).
Einer der profiliertesten Regisseure dieser neuen Erzähl-Hause ist neben Walter Adler Ulrich Gerhardt sein. Gerhardt, der schon Huelsenbeck für den BR aktualisierte, setzte 1998 auch eine ganz moderne Geschichte um: Die Entführung Reemtsmas, durch ihn selbst erzählt ("Im Keller" (NDR, SFB, SWF)). Dabei baut Gerhardt nicht mehr auf interpretierendes oder erzählendes Sprechen, sondern er zerstört jegliche Identifikation. Die Suggestivkraft gewinnen seine Spiele gerade durch Brüche. So läßt er einen Text mehrfach (bis zu 5 Mal) von seinem Sprecher sprechen - und montiert daraus dann eine neue, vielfach gebrochenen Fassung (auch sie kann heute als CD gekauft werden)..
Außerhalb der Hörspielredaktionen wurde sogar die früheste Erzählform des Rundfunks, das Märchen-Erzählen wiederentdeckt. 1992 sendete der Westdeutsche Rundfunk den "Märchenmarathon" "Tausendundein Märchen". 30 Stunden, in denen "die Familien Zeit finden, sich gemeinsam vor dem Radio zu versammeln und Märchen anzuhören bei Kaffee und Kuchen", wie Uwe Schareck, der Realisator der Reihe damals rühmte. Auf akustische aufwendigere Erzählungen allerdings baute der WDR nicht, ihm - und den Hauptsprecher Christian Brückner - ging vor allem ums Vorlesen. Der SWF setzte zwischen 1992 und 1996 mehrfach auf die "Kunst des Erzählens". Und sogar ganz hörspielgemäße Fassungen von modernen, geschriebenen Märchen wurden probiert. 1993 produzierte Helma Sanders-Brahms für RIAS ihre "erotischen Märchen für Erwachsene"; später folgten etwa "Unten am Fluß", jener Weltbesteller des britischen Autors Richard Adams (DLR Berlin 1995) oder Salman Rushdies "Harun und das Meer der Geschichten" (WDR, DLR, ORF, DRS 1996).
Kapfer hat gezählt, daß die "onventionell erzählenden Hörspiele" unter den jährlich beinahe 400 Neuproduktionen der ARD-Hörspielredaktionen noch immer "ungeschlagen sind. Geliebt freilich werden sie kaum, und auch die neuer Bemühungen um einer Wiederbelebung des Erzählens treffen noch auf vielfältige Ablehnung, weil sie Adaptionen von Erzählliteratur, keine eigenständige Radiokunst sind. Doch auch hier ist Bewegung erkennbar. Der Hamburger Medienwissenschaftler und Hörspielkenner Knut Hickethier etwa notierte kürzlich, daß sich das Hörspiel "zumindest eine Zeitlang und vor allem in den Konzepten des Neuen Hörspiels" dem Erzählen gegenüber eher verschlossen" habe. Die Folgen sind klar und noch heute hörbar. "Hörspieleigene Erzählformen wurden zu wenig entwickelt". Geschichtenerzähler, so scheint es, können auf neue Anerkennung hoffen. 

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