Sinneskompetenz <-> Medienkompetenz

Kommunikationsfähigkeit als Ziel einer Pädagogik des (Zu)HörensDieser Aufsatz ist vollständig erschienen in:"medien praktisch" Zeitschrift für Medienpädagogik, Heft 1/98, Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, Frankfurt am Main 1998.

Bezugsquelle:
Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e.V.
Redaktion medien praktisch
60439 Frankfurt am Main

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Alles Hörbare prägt in steter Wechselwirkung das Hören. Hören wiederum gestaltet das Hörbare. Die menschliche Stimme - bis heute unser Kommunikationsmedium Nr. 1 - gehört zu den prägenden Hörereignissen unseres Lebens. Sie ist es, die uns den "Ton angibt", wenn wir durch Mutter (und Vater) zu unserer Sprache finden. Sie ist es, die wir aus einem Gewirr von Smalltalkern ausfindig machen, selbst wenn die Laut-Stärke der Umgebung eine Unterscheidung der Einzelstimmen nicht mehr möglich erscheinen läßt. Sie ist es, die wir über das Telephon und selbst bei noch weiterer Reduzierung des Frequenzspektrums als die Stimme unseres Freundes, des Partners, der Kinder, der Eltern wiedererkennen...

Daß auch sie - wie alles Hörbare - durch das Hören bestimmt wird, daß wir nur sprechen können, was wir hören können; daß die Stimme klingt, wie das Ohr hört; daß es folglich einen unmittelbaren Zusammenhang gibt zwischen dem (Zu)Hören(Können) und dem (Aus)Sprechen(Können) - das ist seit langem bekannt, aber nur wenigen geläufig.

(Idiomatisch)
Daß ein Japaner nicht zwischen "l" und "r" unterscheiden kann und "gelne" sagt anstatt "gerne" - das hat mit seinem Hören zu tun, gel: Sein Ohr hat nämlich nie gelernt zwischen "l" und "r" zu unterscheiden. Es hört das so als wär´s das gleiche. Es macht keinen Unterschied! "L" und "r" - für uns verschieden - sind für das japanische Ohr identisch: "synonym", verstehn´se?

Der Mensch kommt mit Ohren zur Welt - sowohl in der Evolutionsgeschichte des Menschengeschlechts als auch in der Entwicklung jedes Einzelnen: Aus der Embryonalgeschichte wissen wir, daß die Entwicklung des Innenohrs bereits drei Wochen nach der Befruchtung beginnt. Das eigentliche Hörorgan wird im dritten Monat der Schwangerschaft morphologisch ausgebildet und erreicht in der 20. Woche seine endgültige Größe. Spätestens nach vier bis fünf Schwangerschaftsmonaten ist das Gehör vollständig ausgebildet und funktionsfähig. - Das heißt: der Fetus hört!

Nicht, daß er uns "versteht"! Nicht, daß er genauso hört, wie wir hören würden. Auch nicht - wie es uns manche Hörapostel und die ihr angeschlossene New Age Dusel-Musikindustrie glauben machen wollen, daß er am liebsten Syntheziserklänge, komponiert "auf den Sonnenton", hören möchte - nein: der Fetus "hört", weil das Innenohr aus uns nicht bekannten Gründen das erste Organ ist, das der Mensch vor seiner Geburt entwickelt - und weil es das einzige ist, das er in voller Größe und voller Funktionsfähigkeit vorgeburtlich zur Reife bringt: Innenohr und Mittelohr werden vollständig pränatal ausgebildet. Sie sind vor der Geburt fertig - für immer.

Um es bildlich zu sagen: Die hochempfindsamen Organe des Innen- und Mittelohrs sind in unseren erwachsenen Körpern genauso groß wie in dem nur wenige Zentimeter kleinen Fetus im Mutterleib... Sie wachsen nachgeburtlich nicht mehr weiter! Wie aber dieses (immer gleich) kleine Innenohr hört, wenn die dazugehörige Dekodierungsinstanz des Gehirn noch nicht ausgeprägt und die Synapsen kaum vorhanden sind, das ist uns ebenso unbekannt wie die wirklichen Zusammenhänge der neurologischen Verarbeitung von Schall.

Intrauterine Schallaufnahmen des weiblichen Körpers, wie sie - gepaart mit den bereits erwähnten Syntheziserklängen - auf den Schwangerschafts- und Jungmütter/-Vätermarkt geworfen werden (ich selbst habe sie bei unserem ersten Kind mit schrecklichen Wirkungen probiert), zeigen uns nur dies: Sie zeigen, wie ein technisches Instrument, nämlich ein Kleinstmikrofon, die Innengeräusche einer (leeren) weiblichen Gebärmutter registriert und sie für erwachsene Ohren hörbar macht. Wir haben nicht die geringste Kenntnis davon, wie der nur wenige Zentimeter große Fetus - mit seinen noch rudimentären neurologischen Anlagen - tatsächlich hört. Tonträger auf den Markt zu werfen ("So hört das Baby im Mutterleib", "Soothing music for mother and child") oder kostenaufwendige (weltweit lizenzierte) Therapieformen auf dieser Basis zu entwickeln, ist derzeit merkantil erfolgversprechend - aber deshalb nicht weniger anmaßend.

SOUNDPLAY (Geräusch-Collage)
ANNOUNCER: "Jede Nation hat den Klang, den sie verdient."
SOUNDPLAY (Geräusch-Collage: Kurbelmotor, Cable Car, Zug, Flugzeug, entfernender Zug)

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Hören und Sprechen geraten somit ihrerseits zu "Produkten" jener Medien, die sie selbst sich zur Verlängerung ihrer Organe geschaffen haben. Die mit der Erfindung der Schrift einsetzende, durch den Buchdruck manifestierte und mit dem Bildschirm vervielfachte Visualisierung des Akustischen hat den Klang, den Rhythmus, die Struktur - und damit auch den Inhalt - der menschlichen Kommunikation spürbar verändert. Daß dieser Vorgang ein Ende gefunden hätte, scheint wenig wahrscheinlich.

Es wäre umfassende Studien (und Unterrichtsreihen) wert, die Auswirkungen der akustischen Umgebung auf die Befindlichkeit des Menschen, auf seine Gesundheit, seine Arbeitsfähigkeit, sein Handeln und Denken zu untersuchen. Bislang hat man diesen (auch volkswirtschaftliche folgenschweren) Zusammenhängen nur wenig Beachtung geschenkt:

Was bedeutet es zum Beispiel, wenn eine elektrische Bohrmaschine mit 110 Dezibel (A) unmittelbar vor unserer Brust die Dübellöcher bohrt? Was geschieht mit unserem biologischen Warnsystem, mit Pulsfrequenz, Blutdruck, Adrenalinausstoß, wenn ein Düsenflugzeug mit 130 dB (A) über unseren Köpfen hinwegdonnert? Wie reagiert unser Nervensystem, wenn ein Walkman aus Trommelfell-Nähe "Power" bringt, wenn ein Hochleistungsverstärker in einem Kleinstwagen die Insassen (und Passanten) mit Baßschlägen behämmert?

Schall betrifft und trifft nicht nur unser Gehör, sondern unser gesamtes biologisches Gefüge: Schon ein kurzzeitiger akustischer Impuls von 80 Dezibel A (Hupe, Wohnungsklingel) führt zu Veränderungen im vegetativ-hormonellen System: Die Nebenniere schickt vermehrt Hormone in die Blutbahn, die Gefäße verengen sich, der Blutdruck und die Pulsfrequenz steigen an, die Hautdurchblutung geht zurück. Magenaktionen verringeren sich, der Stoffwechsel schnellt in die Höhe, die Speichelbildung geht zurück, die Muskelspannung nimmt meßbar zu... - Lärm ist die Musik, die immer nur der andre mag!

REGIE: (Mikrofonfahrt durch das Fenster herab auf die Straße:
Unfallstelle, Stimmen, Schritte, deutsche Polizei- und Feuerwehrsirenen näherkommend, nah - dann: amerikanische Polizei- und Feuerwehrsirenen näherkommend, nah - dann: französische Polizei- und Feuerwehrsirenen näherkommend, nah - und so weiter.)
TEXT: (Junge auf der Straße, geht herum und erzählt es allen)
Ich bin ein Sirenensammler...
REGIE: (Sirenenkonzert)
TEXT: (Junge)
Ein Sirenensammler sammelt Sirenen...

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TEXT: (Junge)
Und das ist eine aus Italien.
O-TON: (Polizeisirene Italien)
TEXT: (Junge)
Und das ist die Polizeisirene aus England.
O-TON: (Polizeisirene England)
REGIE: (aus dem O-Ton hervorkommend:)
O-TON: (moderner Subliminalwecker, anschwellend, frei)
TEXT: (Junge - darüber)
Und das ist der Wecker meiner Eltern - deshalb muß ich jetzt gehen, bitte...
REGIE: (Weckersignal lauter - der Wecker wird erschlagen)

(...)

Zu den besonders verborgenen und durch den härtesten Knochen des menschlichen Skeletts geschützten Organen gehört das flüssigkeitsgefüllte Innenohr, die sogenannte "Schnecke" mit der Cochlea und dem Vestibularapparat, unserem Gleichgewichtssinn, der uns aufrecht und in der Waage hält. Gerade 450 Jahre alt ist das Wissen um dieses eigentliche Hörorgan - zu kurz, um auch nur annähernd behaupten zu können, wir wüßten heute, was das Hören ist.

Es ist ein vermeintliches Paradox, daß wir durch die visuell orientierte "nüchterne" Wissenschaft der Neuzeit zu einer größeren Bereitschaft gelangt sind, auch das vorgeblich Nicht- oder Noch-Nicht-Reale in unsere "Betrachtungen" einzubeziehen. Auch das Ohr wird in diesem Zusammenhang als Organ der Welt-Wahrnehmung von neuem relevant.

Eine mystische Überhöhung des Hörens, wie sie von (selbsternannten) "Klangaposteln" (zur eigenen Überhöhung) gerne protegiert wird, greift letztlich jedoch zurück auf jenes Augenprimat der abendländischen Philosophie, die die Phänomene des Sichtbaren als real vorhanden, die Welt des Hörbaren aber als jenseitszugehörig, als hinüberreichend, transzendierend, mystisch, unerklärbar und geheimnisvoll deklariert. Eine Mystifikation dieser Art bestätigt letztlich, was sie vorgeblich aufzuheben versucht, nämlich die hiesige ("irdische") Dominanz des Sehens über das Hören!

Das Ohr braucht Training, keine Propheten - auch wenn sie es (vorgeblich) noch so "gut meinen"! Das Ohr ist weder größer noch wichtiger (oder gar göttlicher) als andere Organe des Menschen. Es kann, was es kann, nicht um zu brillieren (oder um seine Verfechter brillieren zu lassen), sondern um jenen Teil der Welt erfahrbar zu machen, der dem Auge, der Nase, dem Mund, den Händen und allen anderen Organen des Menschen nicht zugänglich ist - und niemals zugänglich sein wird.

Ziel einer wirklichen Emanzipation der Sinne - und damit eine der Aufgaben einer zukünftigen SCHULE DES HÖRENS - ist es, die Gleichwertigkeit der Sinnesorgane und Ihrer Wahrnehmungen bewußt und ihre verschiedenartigen Funktionen nutzbar zu machen.

(...)

"Hören ist ein physiologisches Phänomen; zuhören ein psychologischer Akt", schreibt Roland Barthes. Die physikalischen Voraussetzungen des Hörens sind bis zur Weiterleitung der elektrischen Impulse an die zentrale Hörbahn erfaßbar. Zuhören jedoch bleibt einer solchen Beschreibung verschlossen. Es offenbart sich als Haltung einem Anderen gegenüber - einem Sprecher, einer Musik, einem Hörspiel, einem Hund, einem Pkw-Motor, einem Morsezeichen. Zuhören definiert sich durch die Hinlenkung auf ein Objekt, durch die Zuwendung an ein Gegenüber, durch die Öffnung für eine Schall-Quelle, die den Zuhörenden speist. - Wer zuhört empfängt!

Dieses Empfangen allerdings will gelernt sein - denn es hat bewußt zu geschehen, wenn es dem willfährigen (Ge)Horchen entzogen sein soll. Ziel einer Medienpädagogik des (Zu)Hörens sollte es deshalb sein, ein allgemeines, über alle Bildungs- und Alterstufen hinwegreichendes Bewußtsein herzustellen für die Bedeutung und die Funktionsweise des Hörens - also der Rezeption und der Perzeption durch das Ohr.

In wievielen Bereichen des Alltags hat unsere Industrie bereits die Wirkungsträchtigkeit der akustischen Kräfte (auf Kaufbereitschaft, Wohlgefühl, etc. ihrer "Kunden") unter Beweis gestellt! Sound-Design ist (nicht nur in der Autoindustrie) seit Jahren bereits ein hochdotiertes Genre.

Nie zuvor in der Geschichte der Medien war die Möglichkeit mit austischen Erscheinungen gestalterisch zu arbeiten, mit der eigenen Stimme zu experimentieren, mit den medialen Möglichkeiten von Schnitt und Blende zu komponieren - so groß wie heute. Die digitalen Möglichkeiten dieser Arbeit allerdings scheinen gerade erst zu beginnen: Mikrofonbestückte Digitalkameras und multimediale Computer gelangen erst jetzt auf den breiten Konsumermarkt.

Das Zeitalter der Multimedia-Computer hat das lange vernachlässigte Hören und Sprechen von Neuem in das Bewußtsein gehoben. Wie beim Film war auch die Anfangszeit des Computers "stumm". Nun beginnt das allgegenwärtige Dienstleistungsinstrument zu sprechen. Und wie wir wissen, ist es eine unabdingbare Voraussetzung des Sprechens, daß wir hören können!

Sinneskompetenz als Voraussetzung für Medienkompetenz! Das ist die Grundforderung einer zukünftigen "Schule des Hörens". Kompetenz im Umgang mit den eigenen Sinnesorganen scheint unabdingbar für die Entwicklung einer Kompetenz im Umgang mit den multifunktionalen Medien unserer Zeit - mit jenen technischen Instrumenten, die (verkürzt gesagt) nichts anderes sind als Fortsetzungen unserer eigenen Sinne...

Seit jeher gilt der Ausbildung unserer Schreib- und Lesefähigkeit das didaktische Bemühen unseres Bildungswesens. Hören (und Sprechen!) dagegen geraten nur selten zum Gegenstand des Unterrichts. Es kursiert die Vermutung, als seien uns diese Fähigkeiten von Geburt an zu eigen. - Welch ein Irrtum, wie wir sehen! 

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QUELLEN-ANGABE BEI ZITIERUNG:

Karl Karst, Sinneskompetenz <-> Medienkompetenz. Kommunikationsfähigkeit als Ziel einer Pädagogik des (Zu)Hörens, in: "medien praktisch" Zeitschrift für Medienpädagogik, Heft 1/98, Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, Frankfurt am Main 1998 - zitiert nach: Internet-Bibliothek der SCHULE DES HÖRENS (www.schule-des-hoerens.de ). 

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