Das Ohr - Eine Erkundung
Vortrag von Karl Karst

Evangelische Akademie Baden, Tagung "Verlust der Stille", Bad Herrenalb 1994

"Das Auge führt den Menschen in die Welt,
das Ohr führt die Welt in den Menschen ein."
Lorenz Oken (1779-1851) 

PRÄFIX

Es ist überkommene Praxis, ein Sinnesorgan des Menschen wichtiger zu nennen als das andere. Seit mehr als 2000 Jahren gilt der abendländischen Kultur das "Schauen" mehr als das Hören. In diesem Jahrhundert nun "entdecken" wir das Ohr - und wie selten zuvor ergibt sich die Möglichkeit einer "Emanzipation". Mit ihr, wie mit jeder Emanzipation, verknüpft sich ein Streit um Führung, der - sowohl bei den Sinnen als auch bei den Geschlechtern - nicht das Ziel, sondern allenfalls eine Etappe der Gleichsetzung sein kann: Nicht um die Umkehrung der Sinnen-Hierarchie soll es gehen, sondern um deren Aufhebung!
Keines unserer "Instrumente", so lautet die Nachricht, ist weniger bedeutsam als das andere. Und keine Schädigung, kein Verlust eines unserer Sinnesorgane ist weniger ungebührlich als die Schädigung eines anderen. Die "Zukunft der Sinne" * (wie die Zukunft der Menschen) ist notwendig eine des gleichwertigen Zusammenspiels.

* Anmerkung:
"Die Zukunft der Sinne" ist der Titel einer Symposienreihe der "Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland", die im Mai 1993 (siehe Präsenzen) mit dem Themenschwerpunkt "Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören" begann und erstmals das Projekt der "Schule des Hörens" öffentlich präsentierte (siehe Vortragstext). 

GENESE

Der Mensch kommt mit Ohren zur Welt - das ist gewiß! Und es ist gewiß sowohl in der Phylogenese (der Evolutionsgeschichte) als auch in der Ontogenese (der Entwicklung des einzelnen Menschen). Die Evolutionsgeschichte kennt kein Säugetier ohne Gehör. Die Gehörknöchelchen des erweiterten Mittelohrs gelten paläontologisch sogar als Indiz eines Säugerfundes. Milchdrüsen sind ja gemeinhin aus Fleisch.
Die Wissenschaft der Paläanthropologie behauptet, daß der Mensch vor etwa sechs Millionen Jahren entstand. Das Organ des Hörens ist älter. Die Vetebraten, jene vor geschätzten 500 Millionen im Wasser lebenden Urwirbeltiere, verfügten bereits über ein einfaches offenes Innenohr.
Die Dreiteilung des Ohrs in Außenohr, Mittelohr und Innenohr geschah mit dem Wechsel vom Wasser auf das Land: Jene Flüssigkeit, die während des Lebens in den Ozeanen das Innenohr von außen umspülte, mußte nun als körpereigene Flüssigkeit entwickelt und vor dem Austrocknen bewahrt werden. Es galt zudem, ein System der Frequenzumwandlung von Luft- auf Wasser-Wellen herzustellen: Ein einfaches Mittelohr entstand zunächst, aus dem sich im Laufe von weiteren 150 Millionen Jahren jenes empfindsame Übertragungssystem mit Hammer, Amboß und Steigbügel entwickelte, über das jedes Säugetier, folglich auch jeder Mensch verfügt - sei es nun der "homo sapiens sapiens" unserer Tage oder der "Australopithecus Afarensis" aus frühester Ursprungszeit.
Die Schädel-Stücke des "Australopithecus Afarensis" geben Anlaß zu der Vermutung, daß sein Gehirn ein Volumen von etwa 500 Kubikzentimetern besaß. Dem heutigen Menschen wird eine Gehirnfülle von durchschnittlich 1500 Kubikzentimetern attestiert. Das ist das Dreifache. Da die Interpretation der akustischen Vorgänge über das Gehirn vonstatten geht, können wir annehmen, daß sich im Laufe der Menschheitsgeschichte nicht nur die akustische Erscheinung der Welt verändert hat, sondern auch die Art ihrer Wahrnehmung: Es ist naheliegend, aber wenig bekannt, daß das menschliche "Hören" des Pliozän oder des Pleistozän, daß selbst das Hören des 18. und 19. Jahrhunderts ein anderes war als das heutige! Hören ist ein Prozeß der Weltwahrnehmung, der sich mit dem Wandel der Welt fortlaufend (und unbemerkt) verändert. 

LAUT-SPHÄRE

Schmiedehämmer und Kirchenglocken, vielleicht ein tierischer Schrei - das waren die lautesten Geräusche vorindustrieller Zeiten. In der Mitte des 18.Jahrhunderts begann jene tiefgreifende Veränderung der menschlichen Laut- und Lebenssphäre, die mit dem Begriff der "Industrialisierung" nur unzureichend erfaßt ist. Auf den kopfsteingepflasterten Straßen, die zuvor allenfalls Pferdehufe kennengelernt hatten, fuhr nun (zum Beispiel) eine "Trambahn" mit eisernen Rädern auf eisernen Schienen. Sie verursachte ein Quietschen und Schleifen und Bollern, die es vorher nicht gab.
In der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts wird die Dampfmaschine, der Motor der Industrialisierung schlechthin, öffentlich eingeführt. Dampfschiffe gibt es seit 1781, die Webmaschine - Gerhard Hauptmann hat von ihrem Lärm berichtet - kommt 1785 auf die Welt, die erste dampfbetriebene Dreschmaschine 1788.
Die Industrialisierung der Welt hat das Hören (Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten) drastisch verändert. Mit der Veränderung des Hörens hat sich zugleich die Methode verändert, das Gehörte zu benennen, zu erkennen, zu bemessen. Hier geht es dem Ohr nicht anders als den Geräten der Technik, die der Mensch sich geschaffen hat, um seine Sinnesorgane zu ergänzen: Das Messen bestimmt das Meßbare; jeder menschliche Maßstab erschafft seine eigene Welt.
Aus unseren Tagen: Bei kalifornischen Gärtnern (und, wie ich höre, auch schon bei deutschen) ist der Laubrechen durch ein Blasgerät ersetzt worden, das ohrenbetäubenden Lärm erzeugt. Das Gerät sorgt seit einigen Jahren für buchstäblichen Wirbel. Menschen, die sich im Garten oder auf der Straße befinden, flüchten in ihre Häuser, wenn der überdimensionale Fön zu tönen beginnt.
Die Markteinführung dieses Geräts ist symptomatisch für eine Gesellschaft, die einerseits den manuellen Vorgang des Laubfegens vermeiden will, andererseits aber den dadurch entstandenen Bewegungsverlust (und seine gesundheitlichen Folgen) mit eigens dafür entwickelten Sportformen auszugleichen versucht, für die man wiederum eigens entwickelte Kleidung und Gerätschaft erwerben muß, um sie in eigens erbauten Räumen, auf eigens planierten Wegen mit eigens ausgebildeten Lehren zur Schau stellen zu können...
Weder Laubfön noch Laufsport wurden "erfunden", um dieser Welt ein besseres Gefüge und den Menschen mehr Lebenssinn zu geben. Sie wurden entwickelt und durch Werbung vertrieben, "to make bucks", wie es im Amerikanischen heißt. Sie werden "auf den Markt" gebracht, um ein "Mehr" zu erwirtschaften - ein Mehr an "Umsatz", ein Mehr an "Bequemlichkeit", ein Mehr an "Zeit", ein Mehr von jenem Immer-Mehr, das uns antreibt und vorantreibt - und niemand weiß mehr, wohin. 

LAUT-STÄRKE

Der kanadische Komponist Murray Schafer gehört zu den Vordenkern einer "Akustischen Ökologie", wie sie derzeit in das Bewußtsein unserer Öffentlichkeit gerät. In seinem Buch "The Tuning of the World" hat er die Veränderung unserer Lautsphäre eindrucksvoll beschrieben.
Was es bedeutet, wenn eine elektrische Bohrmaschine mit 110 Dezibel (A) unmittelbar vor unserer Brust die Dübellöcher bohrt, wenn ein Düsenflugzeug mit 140 dB (A) über unseren Köpfen hinwegdonnert, wenn ein Walkman aus Trommelfell-Nähe "Power" bringt, wenn ein Hochleistungsverstärker in einem Kleinstwagen die Insassen (und Passanten) mit Baßschlägen behämmert - das ist weder ausreichend erforscht noch hinreichend öffentlich hinterfragt.
Von einem Physiologen und Biokybernetiker wie Manfred Spreng (Universität Erlangen) ist zu erfahren, daß ein Aufenthalt in einer Diskothek nur dann mit Sicherheit ohne Gehörschaden verläuft, wenn er nicht länger als zehn Sekunden dauert. Von Neurologen hören wir, daß die Haarzellen der Basilarmembran nach einem Lautstärke-Angriff darniederliegen wie ein Kornfeld nach einem Sturm. Wir erfahren zudem, daß sie sich - wie das Getreide - nie mehr aufrichten, sondern absterben und verloren gehen.
Wenn wir bedenken, daß dieser Verlust irreversibel ist, daß sich Hörzellen - wie Gehirnzellen - nicht regenerieren, dann ist Verwunderung angebracht angesichts der Tatsache, daß unsere Umwelt- und Gesundheitsbehörden die volkswirtschaftlichen Folgen der akustischen "Umweltverschmutzung" erst jetzt zu registrieren scheinen. Welche Kosten der Gesellschaft entstehen werden, um allein die bereits vorhandenen Hörschäden zu regulieren, ist noch nicht errechnet. Mitte der achtziger Jahre waren fünfzehn Prozent der jugendlichen Berufsanfänger in einer Weise hörgeschädigt wie zuvor nur ein Lärmarbeiter nach zehnjähriger Dauerbelastung. Hörgeräte, wenngleich hochentwickelt und unabdingbar für die Fortsetzung der menschlichen Kommunikation, können den Verlust der Haarzellen nicht ersetzen. Das organische menschliche "Hören" geht unwiederbringlich verloren. 

EIN "MUSEUM FÜR DIE AKUSTISCHE WELT"

Ich freue mich darüber, daß mit Tagungen, Buchveröffentlichungen, Rundfunk- und Fernsehsendungen immer häufiger auf die Bedeutung des Hörens für unsere Gesellschaft und für die Entwicklung des einzelnen Menschen hingewiesen wird. Mit Initiativen wie dem kanadischem "World Soundscape Project", das in den siebziger Jahren an der Simon-Fraser-Universität entstand, mit einer staatlich geförderten "Ersten Internationalen Tagung für Akustische Ökologie", die 1993 im kanadischen Banff-Centre stattfand und zur Gründung des "World Forum for Acoustic Ecology" (WFAE) führte, mit der Erforschung und Aufzeichnung von "Klanglandschaften", von "soundscapes", wie sie heutzutage in Japan ebenso wie in Europa anzutreffen sind, scheint sich allmählich das Bewußtsein für die akustische Erscheinung dieser Welt zu verändern. Dennoch wird es Jahre dauern, bis sich weit genug verbreitet hat, daß unser akustischer Sinn ebenso zerstörbar ist wie unsere akustische Umwelt. Veränderbar sind sie allemal.
Nicht nur die sichtbare Geschichte der Menschheit ist vergänglich, auch die hörbare. Für die sichtbare Geschichte haben wir Museen, Bücher und vielerlei andere Gelegenheiten der Dokumentation. Für die hörbare Geschichte findet sich Vergleichbares kaum. Es ist an der Zeit, ein "Museum für die akustische Welt" zu fordern, in dem Landschaften, Tiere, Menschen, Maschinen, Geräte mit ihren Klängen (und Bildern!) erhalten sind und vorgeführt werden können zu den unterschiedlichsten Zwecken und Zeiten.
Von welchem Nutzen könnte es sein, dauerhaft nachhören zu können, wie der Domplatz zu Köln in den Jahren 1820, 1870, 1910, 1950 und 1990 geklungen hat. Es ließe sich (zum Beispiel) feststellen, wie sich der Bau des Kölner Hauptbahnhofs und die Installation des Rheinufertunnels auf die Lautumgebung des Kölner Doms ausgewirkt haben. Dies zu hören ist etwas grundlegend anderes als es zu errechnen. Das Rechnen findet in Zahlen statt, die wir uns ansehen. Und das ist es, was wir mit dem Hören tun: Wir "sehen" es uns an! Das "Messen" von Lautstärke geschieht durch das An-Sehen des Pegelausschlags im Anzeigefenster eines Dezibel-Meßgeräts oder durch das "Lesen" einer Zahl auf dem digitalen Datenfeld eines Computers. Es ist kein Hören des Hörbaren, es ist die Über-Tragung eines akustischen Ereignisses in den Bereich des Sichtbaren. Ein Hör-Impuls wird zum Sehimpuls. Das Bild von der Welt jedoch zeigt nirgends ihren Klang... 

Fortsetzungs-Kapitel im Original erschienen in:

Evangelische Akademie Baden (Hg.):
Der Verlust der Stille. Ansätze zu einer akustischen Ökologie, Herrenalber Forum Band 13, Karlsruhe 1995 

ENTDECKUNG DES OHRS

I. Antike


II. Anatomie


III. Neurologie


IV. In Zukunft?


DIE EIGENE STIMME


Jedes Organ macht "Pause", jeder Muskel bezieht seine Kraft aus dem Wechsel von Anspannung und Entspannung. Unsere Gesellschaft hat diesen natürlichen Rhythmus verdrängt. Es paßt nicht zum Prinzip einer unbegrenzten Produktivität, Zeiten des Ruhigseins, Orte der Stille einzurichten und zu fördern.
Sie wieder herzustellen - Zeit-Räume zu schaffen, die durch Un-Tätigkeit, durch Langsamkeit, durch Stille-Sein bestimmt sind - ist heute indessen zu einer Wichtigkeit geraten, die selbst unseren Krankenkassen vorrangig erscheint: Nichts wirkt dringlicher als das (Wieder-)Erlernen jenes "rechten Maßes", das für die "Gesundheit" gesellschaftlicher Systeme ebenso bedeutsam ist wie für die Gesundheit des Einzelnen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in einem Fernsehinterview der ARD am 9. März 1994 die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland zur Vorsicht vor einem unersättlich werdenden Haben-Wollen, vor einem Zu-Viel ermahnt, an dem die liberale Demokratie ebenso zugrundegehen könne wie die freie Marktwirtschaft.
Für die Freiheit eines demokratischen Systems ist nichts schädlicher als die Notwendigkeit, sie durch einschränkende Verordnungen in Grenzen zu halten. Die Selbstregulierung der Mitglieder scheint unentbehrlich für ihren Erhalt. Voraussetzung dafür ist jedoch die Fähigkeit des Einzelnen, erfragen und erfahren zu können, was nötig ist (um der Neigung zu entgegnen, alles haben, essen, tun zu wollen, was möglich ist). Voraussetzung ist die Fertigkeit, das eigene Maß finden und nutzen zu können, die eigene Stimme wahrnehmen und einsetzen zu können bei der Überprüfung der Frage, ob die Dinge, die Wünsche, die Taten "stimmen" oder nicht. - Und dies schließlich ist eine Frage des Hörens. 

SUFFIX

Lavater sagte: "Wer hören kann, kann alles", und er hatte recht. Insofern das Hören uns durch das Reden zum eigentichen menschlichen Gebrauch der übrigen Sinne und überall zur allgemeinen Entwicklung der Anlagen und Kräfte unserer Natur hinführt, insofern ist das Hören-Können das allgemeine Fundament unserer Veredelung". - Heinrich Pestalozzi hinterließ uns diese Notiz, die nicht von der puren Wahrnehmung, der sinnlichen Perzeption handelt, sondern vom "Hören" als einem Zuhören, von der Rezeption: "Hören ist ein physiologisches Phänomen; Zuhören ein psychologischer Akt" - so nennt Roland Barthes diesen Unterschied.
Die Fähigkeit des Zuhörens zu bewahren und immer wieder neu zu erfahren - das ist schwierig geworden in einer Zeit des pausenlosen Dreingeredes Dritter, Vierter, Fünfter, die uns glauben machen wollen, besser zu wissen, was gut für uns ist, als wir selbst. Da hält man sich rasch die Ohren zu - mit den Kopfhörern eines Walkman zum Beispiel, die den Lärm mit Lärm bekämpfen. "Noisereductionsystems" - das sind in den USA gängige Hörsysteme, die unangenehme Geräusche der Außenwelt in angenehme elektronische Frequenzen umwandeln und den Hörer in ein akustisches Paradies zu versetzen versprechen. Kein Wort des Nachbarn dringt mehr an Ihr Ohr, kein Geräusch des Flugzeugs, in dem Sie sich befinden - alles transformiert sich in wohlfeilen Klang...
Dies sind Zeichen einer autistischen Welt-Flucht, einer Flucht vor dem Zu-Viel - in ein Noch-Mehr. Anstatt still zu werden, "dröhnt" man sich mit weiterer, wenn auch vorgeblich "positiver" Akustik zu. Anstatt zu reduzieren, vermehrt man, was ist: den Müll durch das Duale System, die Arbeitsaktivität durch Freizeitstreß, den Lärm durch Systeme der individuellen Klangwelt.
"Nicht-sehen trennt den Mensch von den Dingen", heißt es bei Immanuel Kant: "Nicht-hören trennt den Menschen vom Menschen." Das ist die große Gefahr dieser Zeit und dieser Systeme: Daß wir durch den Mangel an Hinhören, durch die Unfähigkeit zuzuhören am Ende auch das "Gespräch" verlieren - und schließlich uns selbst. 

© KARL KARST 1994

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Jede Form der unerlaubten Vervielfältigung, der Kopie, der Einspeisung in Daten- und Mediennetze bedeutet eine Verletzung internationaler Urheberrechtsvereinbarungen und ist strafbar. Alle Rechte vorbehalten. 

QUELLEN-ANGABE BEI ZITIERUNG:

Karl Karst: Schule des Hörens. Das Ohr - Eine Erkundung.
In: Evangelische Akademie Baden (Hg.): Der Verlust der Stille. Ansätze zu einer akustischen Ökologie. Herrenalber Forum Band 13, Karlsruhe 1995 

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